An-Nawawi, Kinder, Genie und Begabung

Der Duden gibt uns mit, dass ein Genie ein „Mensch mit überragender schöpferischer Begabung, Geisteskraft“ ist. Doch diese seltenen Erscheinungen bereits in ihrer Kindheit zu erkennen, ist paradoxerweise in unserer Gesellschaft nicht immer möglich. Eine Gesellschaft, in der so viele Eltern wahnhaft darauf achten, dass ihr Kind alle Entwicklungskurven in den dafür vorgesehenen Zeiten ja erfüllen.

Es geht mir jedoch in meinen Worten nicht nur um Hochbegabung, vielmehr um Begabungen an sich.

Jedes Kind ist gewissermaßen ein Genie; und jedes Genie ist gewissermaßen ein Kind.Arthur Schopenhauer

Was tun wir mit unseren Kindern, wenn sie von der Norm abweichen? Beispielsweise wenn sie nicht mit anderen Kindern spielen wollen und zurückgezogener sind?
Was tun wir, wenn das Kind nicht unsere Interessen verfolgt, Eigenes im Sinn hat?
Ist es nicht oft so, dass wir Unerfülltes aus unserer Kindheit unseren Kindern auferlegen, damit wir unsere Kindheitswünsche nachträglich erfüllen?

Am Ende hat weder das Kind, noch die Eltern, Schule und Gesellschaft, was jeweils gewollt ist. Vielleicht lag es ja auch persönlich bei uns an unseren Eltern, die an uns weitergeben wollten, was sie nicht in ihrer Kindheit verfolgen konnten, weil bereits deren Eltern….

Wir vererben quasi den Fehler weiter – Nein! Wir sollen uns in unsere Kinder hineinfühlen und ihnen dort Bestärkung geben, wo es ihr Ent-Wicklungs-Plan, ihre gottgegebene Beschaffenheit fordert:

قُلْ كُلٌّ يَعْمَلُ عَلَىٰ شَاكِلَتِهِ

Sag: Jeder handelt nach seiner Weise…(17:84)

„Schaakilah“ kann wiedergegeben werden mit Form, Gestalt, Bauart, Typ, Art, Weise, Sorte und Gattung. Die klassischen Qurankommentatoren erläuterten „Schaakilah“ sowohl mit der Religion als auch mit der Individualität der/des Menschen. Ibn Kathier (r) führt synonym, resp. erklärend das Wesen und die Absicht einer Person auf; Al-Qurtuby (r) erläutert u.a., dass jeder gemäß seiner Ansicht das tun soll, was ihm näherliegender und lohnenswerter erscheint.

Das Talent arbeitet, das Genie schafft. Robert Schumann

Nicht nur Elternhäuser können talenthemmend wirken. Durch verschiedenste Zwänge wirtschaftlicher, kultureller, ideologischer und staatlicher Natur, ist ein Schulsystem hervorgekommen, was offensichtlich nicht immer jeden fördert, bildet und die Liebe zum Lernen den Kindern nahebringt. Biographien von Menschen, die trotz der Schule erfolgreich wurden oder zumindest nicht aufgrund dieser, kennen wir alle zuhauf. Die Schule ist also kein Garant dafür, dass wir das erreichen bzw. unsere Kinder, was in uns angelegt ist.

Leugnung des für uns Unvorstellbaren

Jeder Mensch von Genie hat seine Verleumder.Edgar Allan Poe

Unsere (oft durch die Verkennung unserer Talente bedingte) Mittelmäßigkeit (die wir oftmals als Maß aller Dinge erleben) lässt uns wiederum ungläubig erstaunen, wenn wir Menschen begegnen, die für uns Unvorstellbares leisten. Manche können es nicht wahrhaben, dass es beispielsweise den Hadithgelehrten möglich war, so viele Überlieferungen inhaltlich auswendig zu lernen und formell die Überlieferungskette zu bewahren.

Imam An-Nawawi (r) hätte eine grausame Kindheit und ein anschließendes Leben voller Komplexe gehabt, wenn seine Eltern den Nachbarn hätten gefallen wollen. Doch sie ließen ihm seine Eigenheit – anders als viele Eltern heutzutage, welche Therapien und Ritalin-Einnahme dem Kind aufzwingen.

Imam An-Nawawi (r) wollte als Kind nicht mit anderen spielen. Auch heiratete er nicht – etwas, was sehr ungewöhnlich innerhalb islamisch geprägter Kulturen ist. Imam An-Nawawi (r) widmete sich lieber allerlei religiöser Studien – und wurde so zu einer Bereicherung für die islamischen Wissenschaften.

Im Nachhinein ist es natürlich bloße Spekulation, jedoch liegt die folgende Schlussfolgerung nahe: Das abweichende Sozialverhalten Imam An-Nawawis (r), gepaart mit seinen herausragenden Leistungen u.a. in den Feldern der Hadithwissenschaft, des islamischen Rechts und der Theologie, deutet darauf hin, dass Imam An-Nawawi (r) zu den sogenannten „Inselbegabten“ gehörte.

Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die Übrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehn vermögen.Arthur Schopenhauer

Sich mit dem Phänomen der Hochbegabten auseinanderzusetzen, lässt die Leistungen der früheren Großgelehrten gewissermaßen schrumpfen. Ein Daniel Tammet, der Zahlen als „Teil seiner Kindheit“, die ihm ein „Gefühl von Rhythmus und Sicherheit gaben“ beschreibt und erklärt, dass er mit Zahlen gespielt hatte „wie andere Kinder mit ihren Freunden spielen“ ist für mich nicht weniger erstaunlich als die Hadithwissenschaftler Al-Bukhari (r) oder Muslim (r).

Schachmatt!

Genies in den verschiedensten Gebieten zu sehen, wenn sie das tun, wofür sie geschaffen worden sind, hilft uns zu verstehen, dass es eben jene Erlesenen waren und sind, welche die Pionierleistungen in den islamischen Wissenschaften vollbrachten und bis zum heutigen Tag weiterführen und verteidigten.

Einen Hochbegabten aus einem rein weltlichen Bereich möchte ich mit einer Vorgeschichte vorstellen: Da mein Schwiegervater aus Polen einerseits einen vorzeigbaren Schwiegersohn und andererseits Beute zum Spielen haben wollte, habe ich so manchen harten Schachabend verbringen dürfen und so ein Interesse an diesem Denksport gewonnen. Ab und zu schaue ich mir auch eine kommentierte Schachpartie im Netz an. In den für mich unerreichbaren Ligen tummeln sich Hochbegabte und einige Partien haben auch für Außenstehende einen gewissen Unterhaltungswert.

Nun zu Viswanathan Anand, der von 2007 bis 2013 der 15. Schachweltmeister war, bis er vom jungen Magnus Carlsen entthront wurde. Eine der spannendsten Partien zwischen zwei Großmeistern überhaupt ereignete sich zwischen Anand und Ilya Smirin im Jahre 1994. Es wurde auf Zeit im „Armageddon“-Modus gespielt: Jemand bekommt eine Minute weniger Spielzeit, bei einem Unentschieden gewinnt dieser jedoch die Partie: Anand war dieser jemand. Von seinen 5:00 Minuten (Smirin hatte also 6:00 Minuten) nahm er jedoch beim vierten Zug ganze 1:43 Minuten Bedenkzeit! Die ansonsten sehr ruhigen Kommentatoren sind außer sich: „Schockierend! – Unglaublich! – Unverständlich! – Lächerlich!“ Trotzdem gewinnt Anand die Partie am Ende durch Sieg mit noch 1:21 Minuten auf der Uhr!

Selbstverständlich kannte Anand auf seinem Weg zur Spitze auch Niederlagen. Zu den wohl bittersten gehört die gegen Zapata 1988. Nach nur fünf Zügen gibt er, seine Niederlage eingestehend, auf.

Viswanathan Anand war nur ein Beispiel von vielen möglichen, welcher uns Ali- und Otto-Normal-Denkern zeigt, dass Außergewöhnliches nichts weiter ist als das sich außer unserer Gewohnheit Befindende.

In der Hoffnung,

  • die überlieferten Leistungen unserer vergangenen Großgelehrten in unserer Wahrnehmung als machbar – zumindest für Hochbegabte und Genies – verankert zu haben.
  • die Aufmerksamkeit von Eltern und älteren Geschwistern in Bezug auf die Begabungen ihrer Kinder und Geschwister erhöht zu haben.
  • inspiriert zu haben.