Problematik der Verfassungsschutzberichte

Dr. Jürgen Micksch, evangelischer Theologe und Soziologe,1 erkennt im antimuslimischen Rassismus eine Bedrohung für die Demokratie. Er widmet in seiner Broschüre „Antimuslimischer Rassismus – und was tun?“ ein ganzes Kapitel dieser Thematik.2

In seiner Abhandlung erwähnt Dr. Micksch zu diesem Thema folgende sechs Hauptgründe für die antimuslimische Stimmung:

  1. Geschichtliche Belastungen
  2. Politik
  3. Muslimischer Extremismus
  4. Fehler beim Bundesamt für Verfassungsschutz
  5. Medien
  6. Islamfeindliche Stimmung bei Gruppierungen aus muslimischem Kulturkreis oder mit entsprechendem Migrationshintergrund

Die vorliegende Abhandlung „Der Verfassungsschutzbericht – Funktionen und rechtliche Anforderungen“ Prof. Dr. Dietrich Murswieks befasst sich mit dem Verfassungsschutz und liefert einen wertvollen Beitrag zur intellektuellen Selbstverteidigung bezüglich der den rechtlichen Anforderungen oftmals nicht genügenden Verfassungsschutzberichte.

Dr. Dietrich Murswiek ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Deutsches und Internationales Umweltrecht an der Universität Freiburg und geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht.

In seiner Untersuchung „Verfassungsschutz durch Information der Öffentlichkeit – Zur Entwicklung der Verfassungsschutzberichte seit dem JF-Beschluss“ (in: Informationsfreiheit und Informationsrecht. Jahrbuch 2009, Lexxion Verlagsgesellschaft, Berlin 2009, S. 57-104, insbesondere S. 73-104.) hat Dr. Dietrich Murswiek festgestellt, dass mit Ausnahme der Verfassungsschutzberichte Berlins und Brandenburgs alle in den Jahren 2006-2009 publizierten Verfassungsschutzberichte von Bund und Ländern verfassungswidrig sind. Eine nötige Neuauflage der Untersuchung ist hoffentlich zu erwarten.

Auch wenn die hier vorliegende Veröffentlichung aus dem Jahre 2007 ist, darf man davon ausgehen, dass viele Aussagen auch heute noch zutreffen. Diesen Eindruck muss man gewinnen, wenn man die Wandlungsschwerfälligkeit der jeweiligen Behörden in den letzten Jahren sowie das Nichtergreifen, resp. die ungenügenden „vertrauensbildenden Maßnahmen“ innerhalb der NSU-Aufarbeitung mitverfolgt.

Da Juristendeutsch bekanntlich schwere Kost ist, lasse ich ein paar Zitate folgen.

  • „In den meisten Verfassungsschutzberichten wird nicht nur über erwiesene Verfassungsfeinde berichtet, sondern auch über solche Organisationen, die von der Verfassungsschutzbehörde lediglich verdächtigt werden, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu verfolgen. Diese Praxis ist rechtswidrig. Sie findet in den Verfassungsschutzgesetzen keine Grundlage und verstößt zudem gegen das Grundgesetz.“
  • „In Verdachtsfällen ist es jedoch immer auch denkbar, daß der Verdacht sich später als unbegründet erweist. Wenn also, wie dies gegenwärtig praktiziert wird, in Verfassungsschutzberichten auf der Basis eines bloßen Verdachts Beobachtungsobjekte als extremistisch eingeordnet werden, dann ist es möglich, daß der Verfassungsschutz manche Organisationen als angeblich extremistisch bekämpft, die in Wahrheit verfassungsmäßige Ziele verfolgen.“
  • „Die Verdachtsberichterstattung verstößt nicht nur gegen das Verfassungsschutzgesetz, sondern auch gegen die Grundrechte der Betroffenen. Sie verletzt nämlich den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil sie zur Erreichung des gesetzlichen Zwecks nicht erforderlich ist.“
  • In bezug auf Organisationen, die – wie die meisten, über die der Verfassungsschutz berichtet – ihre vermutlich verfassungsfeindlichen Ziele gewaltfrei verwirklichen wollen, dürfte eine solche Dringlichkeitssituation nie gegeben sein. Denkbar ist sie, wenn man sich den Fall vorstellt, daß eine als verfassungsfeindlich verdächtigte Partei vor einer Bundestagswahl so großen Zuspruch findet, daß mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch diese Partei gerechnet werden müßte. Aber das ist fern der Realität, mit der wir es heute in Deutschland zu tun haben.“
  • „Außerdem ist zu berücksichtigen, daß die Berichterstattung über eine Organisation im Verfassungsschutzbericht eine an ihr Verhalten anknüpfende negative Sanktion ist30, die wegen ihrer einschneidenden Wirkung die Betroffenen wesentlich härter treffen kann als manche Strafsanktionen31. In einem Rechtsstaat darf der Staat aber nicht Sanktionen verhängen, wenn gar nicht feststeht, daß der Betroffene den Tatbestand erfüllt hat, der die Sanktion auslöst. Daß die Bestrafung auf Verdacht hin rechtsstaatswidrig ist, kann nicht nur für Kriminalstrafen gelten. Andernfalls wäre es dem Staat ohne weiteres möglich, diesen rechtsstaatlichen Grundsatz zu umgehen, indem formal statt der „Strafe“ eine anders bezeichnete Sanktion verhängt wird.“
  • „Es reicht nicht aus, daß einige tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung sprechen. Die Verfassungsschutzbehörde verfehlt von vornherein ihren Auftrag, wenn sie nur nach Anhaltspunkten sucht, die für die Verfassungsfeindlichkeit einer Organisation sprechen. Sie muß ebenso solche Umstände ermitteln und zur Kenntnis nehmen, die gegen die Verfassungsfeindlichkeit der Zielsetzung sprechen. Andernfalls entsteht ein völlig verzerrtes Bild der betreffenden Organisation und eine völlig verzerrte Vorstellung des von ihr ausgehenden Gefahrenpotentials. Nur wenn mit dem Ziel der Wahrheitsfindung, also vom Ansatz her neutral, ermittelt wird und positive ebenso wie negative tatsächliche Umstände in gleicher Weise in die Sachverhaltsermittlung eingehen, kann konkret beurteilt werden, ob das Gefahrenpotential so groß ist, daß es die Warnung im Verfassungsschutzbericht rechtfertigt.“
  • „Es hat jedoch darauf hingewiesen, daß die Medien bei ihrer Berichterstattung über
    verfassungsfeindliche Bestrebungen im Text des Verfassungsschutzberichts enthaltene Nuancierungen üblicherweise nicht wiedergeben, sondern alle im Verfassungsschutzbericht in der gleichen Rubrik aufgeführten Organisationen auf eine Stufe stellen.“
  • „Die zweite Fallgruppe umfaßt die Äußerung von Kritik an einem Element der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Solche Kritik, z.B. an der Demokratie, ist dann, aber auch nur dann als Anhaltspunkt für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung zu werten, wenn sie nach ihrem Kontext den Willen zur Abschaffung dieses Elements zum Ausdruck bringt. Dies kann bei Kritik an einem konkreten Verfassungsgrundsatz des Grundgesetzes, also beispielsweise an dem Prinzip der Volkssouveränität im Sinne des Art. 20 II GG, vermutet werden, nicht hingegen – wie dies in Verfassungsschutzberichten immer wieder geschieht – bei historischen, philosophischen, staats- oder politiktheoretischen Betrachtungen.“
  • „Die gegenwärtigen Verfassungsschutzberichte genügen auch unter diesem Aspekt nicht den Anforderungen des Grundgesetzes.“

(Auf) Gute Besserung!

Der Verfassungsschutzbericht Prof. Dr. Murswiek

 

Quellennachweise:

1 Dadurch dass Jürgen Micksch Experte im Bereich des Themenkomplexes Interreligiöser Dialog, sozialer Frieden und den Beziehungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland ist, verleiht seiner Meinung besonderes Gewicht. Seine Fachkompetenz wird noch weiter gestützt durch die Tatsache, dass der Gründer bzw. Mitbegründer der folgenden Institutionen ist (Gründungsjahr in Klammern):
Konferenz der Ausländerpfarrer (KAP) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (1972, Vorsitzender bis 1984); 1974 Ökumenischer Vorbereitungsausschuss zum Tag des ausländischen Mitbürgers/ später umbenannt in Interkulturelle Woche. (1972, Vorsitzender bis 1995); Islamisch-Christliche Arbeitsgruppe zu Ausländerproblemen (ICA) auf Bundesebene (1976), Konferenz für Islamfragen der EKD (1981), Arbeitsgemeinschaft Pro Asyl (1986), Fördervereins Pro Asyl and Stiftung Pro Asyl (2002); Bayerischer Flüchtlingsrat (1986); Bundesweit erste von Betroffenen verkaufte Obdachlosenzeitung BISS (Bürger in sozialen Schwierigkeiten) in München (1993); Interkultureller Rat in Deutschland und seitdem Vorsitzender (1994); Islamisch-Christliche Arbeitsgemeinschaft in Hessen (1995); Forum gegen Rassismus beim Bundesministerium des Innern (1996)
Abrahamisches Forum in Deutschland (2001 und seitdem Moderator, sowie Vorsitzender des 2013 gegründeten Vereins; Deutsches Islamforum und seitdem Moderator sowie Islamforum in Nordrhein-Westfalen (2002 und seitdem Moderator), Hessisches Islamforum (2003), Forum Muslime in den neuen Ländern (2004), Islamforum Rheinland-Pfalz (2004), Islamforum Bayern (2005) und Koordinierungsrat der Islamforen in Deutschland (2006); Interreligiöse Konferenz (2011); Stiftung für die Internationalen Wochen gegen Rassismus (2014 )
State.gift: Jürgen Miksch, in http://state.gift/jurgen-micksch_7132013.html (zuletzt aufgerufen am: 06.09.2016)

2 Stiftung für die Internationalen Wochen gegen Rassismus/ Jürgen Miksch: Antimuslimischer Rassismus – und was nun? In:http://islam.de/files/pdf/u/15_12_22_BHP_IKR_Antimuslimischer_Rassismus.pdf (zuletzt aufgerufen am: 30.01.2018), S. 9-10.